Junge Redakteur:innen: Die Spielfreudigen
von Carla Gessing
„Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.", ist ein altbekanntes Ende der Märchen, die seit Jahrhunderten erzählt werden. Doch was machen die betagten Märchenfiguren, wenn sie nicht gestorben sind? Sind die gängigen Kindermärchen nicht eigentlich etwas traumatisierend in ihren Handlungen, wenn man genau hinsieht? Hat die Hexe jetzt einen Hexenschuss? Sind die Prinzessinnen und Prinzen noch zusammen oder hat sie eine Ehekrise dann doch auseinandergetrieben? Der Senior:innenenclub ‚Die Spielfreudigen‘ hat dazu ein Stück entwickelt.
Wir befinden uns offenbar in einer Senior:innenresidenz, in welcher die gealterten Märchenfiguren ihren Alltag verbringen. Die Märchenhaftigkeit des dunklen Raumes mit Bingo und Kaffeekränzchen-Tischen wird durch ein Fenster zu einer Märchenwelt deutlich. Mit klarer und packender Stimme beginnt ein hypnotisierendes Gedicht über das Geschichtenerzählen der Menschen am Feuer. Das bekannte Bild einer Großmutter, die uns nun Märchen erzählt, wirft uns in die verzauberte Welt. Aber erwartet uns hier wirklich ein gewöhnliches Märchen? Oder sind wir doch in einer Senior:innenresidenz?
Schon von Beginn an zieht einen das Stück in die Atmosphäre des Märchens. Die Charaktere der Bewohner:innen lernen wir nach und nach in Szenen und häufig in Monologen kennen. Doch wie sind die Geschichten der Figuren weiter gegangen? Man hängt bei jedem Auftritt an den Lippen der Spielerinnen, um das zu erfahren. Nach dem Happy End ist leider nicht immer alles so blendend verlaufen. Dornröschen kann nicht mehr schlafen, da ihr geliebter, aber verstorbener Prinz sie nun nicht mehr wach küsst. Rapunzel ist konfrontiert mit den Traumata ihrer Kindheit. Rumpelstilzchen backt und braut immer noch leidenschaftlich und sucht verzweifelt nach einer Möglichkeit, ums Feuer zu tanzen. Durch die einsetzende Demenz hat es aber inzwischen selbst seinen Namen vergessen. Die Lebhaftigkeit hat es in der Darstellung jedoch vollkommen behalten und bringt einem mit jedem Auftritt sofort zum Schmunzeln. Die Prinzessinnen konnten mit der Zeit ihre perfekte Fassade nicht erhalten und entdecken im Alter die Hexe in sich. Und die Königin, der ihr Kind beinahe von Rumpelstilzchen genommen wurde, klammert sich mit Überfürsorglichkeit noch immer an ihre Rolle als Mutter.
Das moderne Märchen auch unserer Zeit. Den Spielenden war es außerdem wichtig, die Situationen in Senior:innenresidenzen und Altersheimen zu kritisieren: Ein getakteter Zeitplan voller Bingo-Spiele und Zaubertränke, die ruhig stellen. Die Wiederholungen im Stück und der geregelte Tagesablauf bringen die Zuschauenden selbst in eine beklemmende Stimmung. Freigeistige Figuren wie Rotkäppchen oder Hans im Glück finden hier kaum einen Platz. Das Stück spielt dabei ganz zauberhaft mit Klischees über das Alt-sein.
Auch die Kostüme spielen mit Klischees von Senior:innenkleidung – mittels der Mischung von Praktikabilität und Eleganz. Wir sehen: Weite Blusen, beigefarbene Hosen, lange Ketten und praktische Schuhe. Durch hinzugefügte Eleganz, Glitzer und veränderte Merkmale bekomme sie ganz passend einem märchenhaften Touch. Am Kostüm lassen sich bereits Andeutungen erkennen, auch wenn der Text noch nicht die Identität der Bewohner:innen preisgegeben hat. So hat etwa Rotkäppchen ihre Kappe zu einem edlen Schleier erweitert, der über den Boden gleitet.
Irgendwie genießen trotzdem alle auf eigene und exzentrische Art gemeinsam das Alter. Jede Spielende verkörpert bereits mit ihrem Auftreten ihren Charakter. Die lange Charakterarbeit hat sich gelohnt. Jede spielende Person bringt eine Tiefe in ihrer Figur hinein. Das Alter merkt man den Spielenden auch an, aber eben das bringt eine unglaubliche Qualität auf die Bühne. Gleichzeitig steht jede Spielerin mit einer großen Präsenz auf der Bühne und schafft es, die Zuschauenden zu packen. Das Stück lebt davon, als Zuschauer:in die verkörperten Figuren und wie sie interagieren aus nächster Nähe kennen lernen zu können. Hier bekommt jede Figur, ganz gleich ob sie schon leicht dem Wahnsinn verfallen ist, ihren Raum und ihre Achtung. Die Spielenden erwecken die alten Geschichten mit ihrer Darstellung wieder zum Leben. Gleichzeitig fällt auf, wie sich der Blick auf ein Märchen wandelt, sobald Senior:innen es erzählen. Lachen kann man bei den extravaganten Charakteren, die hier auf die Bühne gezaubert wurden, allemal. Gleichzeitig ist das Stück unglaublich berührend und macht auch vor schweren Themen des Lebens und Alterns keinen Halt.
Ein Abend über die Macht des Erzählens von Märchen und wie viel vom Leben darin stecken kann. Die Grundidee ist nicht nur genial, sondern auch fantastisch umgesetzt.
Carla ist Teil der Jungen Redakteur:innen – ein junges Schreibkollektiv, das Artikel rund um das Festival ClubFusion schreibt.